Als ein Schrei aus 11.000 Kehlen die Stadt aufschreckte

Joachim Gruhle (links) und Werner Bamberger (rechts) feierten mit Motor Wema Plauen 1971 Platz 4 in der 2. Liga der DDR.
Joachim Gruhle (links) und Werner Bamberger (rechts) feierten mit Motor Wema Plauen 1971 Platz 4 in der 2. Liga der DDR. Foto: Karsten Repert

Am Sonntag jährt sich eines der größten Spiele der Plauener Fußballgeschichte. Die Wema feierte, die SED-Bezirksleitung schäumte.

Plauen.Eine Meistermannschaft besiegen – das ist der große Traum jeden Fußballers. Den Wema-Helden gelang das am 28. März 1971. Und das, obwohl die damalige SED-Bezirksparteileitung sie eindringlich warnte: Die Plauener kämpften den großen FC Karl-Marx-Stadt nieder. Vier Jahre zuvor war der noch DDR-Meister geworden.

Es ist 15 Uhr an diesem Sonntag in der Gabelsbergerstraße. Durchs offene Fenster strömt der Frühling vom grünen Leninplatz (heute Dittrichplatz) in die Stube. Sven Gerbeth isst bei Oma und Opa Streuselkuchen. Sein Vater ist nicht mitgekommen. Im Vogtlandstadion findet ein großes Fußballspiel statt. Jeder siebente Plauener ist scheinbar „naus gemacht“, wie man in der Stadt zu sagen pflegt. Dass in jenen Momenten ein Augenblick für die Ewigkeit stattfindet, ist dem damals Siebenjährigen erst viel später bewusst geworden. „Diesen Urschrei vergesse ich nie“, erinnert sich Gerbeth an jenen verrückten Tag, als man im Umkreis von über fünf Kilometern immer wieder das Raunen des Publikums vernahm.

Wie 12.000 andere machte sich auch Wema-Fan Rainer Wunderlich auf den Weg: „Wir Plauener waren seinerzeit unglaublich stolz auf die Mannschaft. Unsere Wema hat zu den Spitzenteams in der 2. DDR-Liga gehört“, erinnert sich der damals 25-Jährige. Dass die Plauener mit ihrer wahrscheinlich besten Mannschaft aller Zeiten genau in jenem Spieljahr 1970/71 auf eine Meistermannschaft mit Nationalspielern trafen, durfte man aus Karl-Marx-Städter Sicht als Betriebsunfall einordnen. Der Plauener Fußballhistoriker Rainer Höfer berichtet: „Der für alle Experten vollkommen überraschende Oberligaabstieg des FCK in die DDR-Liga-Südstaffel traf zeitlich genau mit dem Aufschwung des Plauener Fußballs aufeinander. Statistisch gesehen reiste Spitzenreiter Karl-Marx-Stadt nach dem 4:0-Hinspielerfolg als haushoher Favorit an.“ Trotzdem hatten die Parteibonzen kein gutes Gefühl…

Wema-Trainer Walter Jacob musste mit Gefolge in der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt antreten: „Dort hieß es, wir sollen dem FCK beim Wiederaufstieg keine Steine in den Weg legen. Ich war stinksauer. Was war das für eine Respektlosigkeit unseren Sportlern gegenüber?“ Der Erfolgscoach ist inzwischen 91 Jahre. Er verbringt die Zeit in einem Pflegeheim und schmunzelt vor Freude. „Ich möchte alle Plauener grüßen, die vor 50 Jahren dabei waren. Wir hatten das beste Team unserer langen Fußballtradition in Plauen und haben damals sogar Nationalspieler vom FCK und Lok Leipzig alt aussehen lassen“, schwärmt der erste offizielle hauptamtliche Trainer (1969 bis 1972) der BSG Motor Wema Plauen.

Im Spielbericht von Gerhard Fritsch – dem BSG-Schriftführer und Stadionsprecher – steht geschrieben, dass knapp 12.000 Besucher im Vogtlandstadion für einen Zuschauerrekord bei einem Ligaspiel sorgten. Vermutlich erlebten sogar noch mehr Augenzeugen dieses Jahrhundertspiel mit. Das berichten jedenfalls zahlreiche Zeitzeugen. Chronist Volker Herold vom Wema-Nachfolger VFC Plauen hat in den vergangenen zwei Jahren viel Material archiviert. Er weiß: „Die Verkehrspolizei hatte ab 13.50 Uhr mit Hochdruck zu tun. Die Zuschauer waren gekommen, um die Wema siegen zu sehen. Der Heimnimbus – Plauen war bislang ungeschlagen – sollte verteidigt werden! Der Gast und dessen 1000 Schlachtenbummler wurden mit einem Pfeifkonzert empfangen.“

„Ja. So war das. Und dann folgte ein völlig irres Spiel“, erinnert sich der Plauener Stürmer Werner Bamberger lachend, der einst mit FCK-Mittelfeldstar Dieter Erler (47-facher Nationalspieler und DDR-Spieler des Jahres 1967) zusammen beim SC Wismut Karl-Marx-Stadt (Spielort in Aue) kickte. Jetzt waren die früheren Kameraden erbitterte Gegner. Das Spektakel hatte alles zu bieten. Am Anfang Hektik und Nervosität. Dann entwickelte sich ein Match voller Härte, Dynamik und Dramatik. Es ging bis an die Grenze des Erlaubten. Schiedsrichter Herrmann (Leipzig) hatte einiges zu tun, um die Gemüter im Zaum zu halten.

Die rotzfrechen Plauener hatten Riesenchancen. Karlheinz Pöcker scheiterte per Fallrückzieher an FCK-Keeper Manfred Kaschel. Zweimal retteten die Gäste in höchster Not auf der Linie. „Klar, der FCK hatte auch Möglichkeiten. Aber wir waren dem Führungstor näher.“ Es folgten unfassbare Jubelszenen. Stadionsprecher Gerhard Fritsch unterlief im Freudentaumel ein Fehler: „Ich habe Werner Bamberger als Torschützen angesagt. Das war falsch.“ Die Richtigstellung erreichte zumindest noch das DDR-Fernsehen sowie die Fachzeitschriften Fuwo und Sportecho. 21 Jahre jung war der Held des Tages. Mit funkelnden Augen erzählt Joachim Gruhle: „Jürgen Thomaschewski hat am rechten Flügel auf Dieter Schmidt gepasst, dessen Flanke boxte der FCK-Torwart Richtung Elfmeterpunkt, direkt auf meinen Fuß. Ich hab das Ding volle Kanne unter die Querlatte gekracht, und es gab kein Halten mehr.“ Im Anschluss wuchs Wema-Torwart Dieter Jasper mit unglaublichen Paraden über sich hinaus. Dann war Schluss. Ganz Plauen bejubelte voller Überschwang eine wahre Sternstunde des Fußballs.

AufstellungenWema Plauen: Jasper – H. Bamberger, Marquardt, Starke, Enold, Thomaschewski, Pöcker, Häcker (46. Schmidt), W. Bamberger, Schmidt, Gruhle. FC Karl-Marx-Stadt: Kaschel – Göcke, Sorge, K. Lienemann, P. Müller, Schuster, Erler, Neubert, J. Müller, Bader (55. Braun), Zeidler

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